Warum wir die Gefühle unserer Kinder zulassen sollten

Eine vielleicht alltägliche Situation, die Ihnen bekannt vorkommt:

Eva kommt nach Hause und wirft die Schultasche in die Ecke.
Mutter: Schön, dass du da bist. Wie war es in der Schule?
Eva: Eh Scheiße! (Sie beginnt zu heulen.)
Mutter: Ich will nicht, dass du so redest! Was ist denn los?
Eva: Mag nicht drüber sprechen! Du verstehst es eh nicht!
Mutter: Na komm, so schlimm wird es doch nicht sein! Ich hör dir zu!
Eva: Die Beate war voll gemein. Sie hat vor der ganzen Klasse gesagt, meine Hose schaut aus, als hätte ich sie aus dem Altkleidercontainer geklaut.
Mutter: Aber so einen Blödsinn brauchst du doch nicht ernst zu nehmen. Mach dir nichts draus.
Eva (schreit): Ich habe ja gesagt, dass du mich nicht verstehst.
(Rennt heulend in ihr Zimmer und schlägt die Tür zu)

Die werden schon wieder “normal”

Ich vermute, dass viele Eltern solche oder ähnliche Szenen mit ihren Kindern kennen. Häufig sind es Szenen, in denen Kinder oder Jugendliche in der Bewertung ihrer Eltern völlig überreagieren. In der Pubertät heißt es dann oft: „Naja, die Hormone. Die kriegen sich schon wieder ein. Irgendwann werden sie schon wieder NORMAL.“ Und meist werden die Kinder dann auch wieder „normal“ und beruhigen sich, was für viele Eltern dann der Beweis zu sein scheint, dass sie mit ihrer Meinung Recht hatten.

Im Gefühls-Chaos

Doch welche Gefühle könnten in der oben beschriebenen Szene bzw. bereits in der Schule ausgelöst worden sein, dass Eva so reagiert? Und mit welchen Gefühlen könnte sie konfrontiert sein, sobald sie heulend und allein in ihrem Zimmer ist? Das möchte ich (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) näher beleuchten:

  1.  Eva ist in der Schule vor der Klasse bloßgestellt worden. Jemand hat sich über ihren Kleidungsstil lustig gemacht. Womöglich haben einige Klassenkolleg*innen zusätzlich gelacht, als Beate ihr Statement zur Hose gemacht hat. Sie war vielleicht beschämt, hat sich womöglich von Freunden im Stich gelassen gefühlt. Und sie wurde auch wütend.
  2. Als sie nach Hause kam, wurde ihre Wut von der Mutter zwar bemerkt, und trotz anfänglichen Widerstands, erzählte sie schließlich auch ihr Erlebnis. Doch die Reaktion, das „Kleinmachen“ des Problems, hat ihre Gefühlswelt noch mehr durcheinandergebracht, sodass sie heulend und schreiend der Situation entflohen ist.
  3.  In ihrem Zimmer könnte Eva schließlich mit einem noch größeren Gefühle-Chaos konfrontiert gewesen sein, als vor dem Nachhause kommen. Nun ist sie vielleicht auch noch wütend und traurig, weil sie nicht verstanden wurde. Und es besteht die Gefahr, dass sie beginnt, an ihren eigenen Gefühlen, an sich selbst zu zweifeln, da ihr eine sehr wichtige Vertrauensperson gesagt hat, dass diese „Lappalie“ kein Grund ist, sich aufzuregen.
Neue Verhaltensmuster entwickeln

Doch welche Reaktion der Mutter hätte Eva denn vielleicht gebraucht, damit sie sich verstanden gefühlt hätte?

Die Antwort ist eigentlich sehr einfach und trifft auf fast alle Situationen zu, in denen sich ein Mensch mit (unangenehmen) Gefühlen konfrontiert sieht. Gefühle gehören ANERKANNT. Es hätte gereicht, wenn die Mutter gesagt hätte: „Wohhh, ich sehe, dass du richtig wütend bist! Ich könnte mir vorstellen, dass da aber auch noch andere Gefühle in dir toben! Magst du mir darüber erzählen?“ Und dann hätten Mutter und Tochter vielleicht die Chance gehabt, in einen Austausch zu kommen, die Mutter hätte Evas Gefühlswelt näher kennengelernt und Eva hätte gespürt, dass ihre Gefühle ernst genommen werden. Sie hätte sich wahrscheinlich als „ich bin gut, wie ich bin“ erlebt.

Fehlende Erfahrungen in der Kindheit

Doch was sich so einfach anhört, findet in vielen Familien oft nicht statt. Warum fällt es vielen Erwachsenen so schwer, die Gefühle ihrer Kinder anzunehmen? EINE Erklärung ist für mich die fehlende Erfahrung und Vorbildwirkung in der eigenen Familie. Viele von uns sind aufgewachsen mit einer sehr speziellen Auslegung von Liebe: „Ich möchte doch, dass es dir wieder gut geht. Ich halte es so schwer aus, wenn du wütend, traurig, … bist.“ Dabei ist diese Aussage für mich nicht Liebe sondern Egoismus: ich will die Gefühle meines Kindes nicht zulassen, weil ICH sie nicht aushalte.

Gefühle sind immer wichtig

Wenn Erwachsene Kindern ihre Gefühle absprechen (und das beginnt im Kleinkindalter mit Aussagen wie: „Das ist ja nicht so schlimm!“, „Jetzt kannst du doch noch keinen Hunger haben!“ „Das ist doch kein Grund sich so aufzuregen!“), dann kann das langfristig fatale Folgen für das Selbstgefühl und den Selbstwert eines Kindes haben. Denn damit sich Kinder zu seelisch gesunden Erwachsenen entwickeln können, brauchen sie Rückmeldungen ihrer Umwelt. Und wenn Eltern und Vertrauenspersonen einem Kind zu verstehen geben, dass seine Gefühle unangemessen und nicht richtig sind, dann könnten Kinder zu glauben beginnen, dass mit ihnen etwas nicht stimmt. Und daraus könnte sich der folgende Glaubenssatz entwickeln: „So wie ich bin, bin ich nicht ok!“

„Nein, es ist nicht leicht, ein Kind zu sein! Es ist schwer, ungeheuer schwer. Was bedeutet es denn – Kind zu sein. Es bedeutet, dass man ins Bett gehen, aufstehen, sich anziehen, essen, …. muss, wenn es den Großen passt, … . Es bedeutet ferner, dass man ohne zu klagen die ganz persönlichen Ansichten jedes x-beliebigen Erwachsenen über sein Aussehen, seinen Gesundheitszustand, seine Kleidungsstücke und seine Zukunftsaussichten anhören muss.“ Und ich würde dieses Zitat von Astrid Lindgren heute noch ergänzen: „Und es bedeutet, dass mir auch gesagt wird, wann ich was fühlen darf oder nicht!“

Ich freue mich wieder sehr auf eure Fragen und Kommentare.

Herzliche Grüße
Eure Ines

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