So kommen Eltern und Jugendliche miteinander besser klar
Immer wieder erlebe ich Erwachsene, sei es Pädagog*innen oder Eltern, die sich über Fehlverhalten, mangelnde Verantwortung, Faulheit, … ihrer Jugendlichen, der „Pubertiere“ beschweren. Wortkreation allein sagt meiner Meinung nach schon einiges über die Haltung von manchen Erwachsenen bezüglich ihrer Wertschätzung Jugendlichen gegenüber aus.
Da mir Jugendliche seit drei Jahrzehnten sehr am Herzen liegen, möchte ich heute einige Gedanken mit euch teilen, die die von Erwachsenen angeprangerten Fehlverhalten der Jugendlichen hoffentlich in ein neues Licht rücken werden. Denn ich habe mittlerweile gelernt, Kinder und Jugendliche als eine wunderbare Schatzkiste zu sehen, die uns Erwachsenen den Weg zu uns selbst in Höchstgeschwindigkeit zeigen kann, wenn wir uns mutig darauf einlassen wollen.
Jugendliche als “Schatzkiste”
Jugendliche fordern von uns Klarheit, sie überprüfen und hinterfragen, ob wir unsere eingeforderten Werte auch selbst leben, sie entlarven unsere Glaubenssätze und bringen den Blick auf unser Leben oft ins Wanken. Denn sie merken meist sehr schnell, wenn etwas in der Familie oder im System Schule schiefläuft, unter den Teppich gekehrt wird und sie schlagen Alarm.
Indem sie beispielsweise verbal massiv entgleisen, Grenzen permanent überschreiten, sich in die virtuelle Welt zurückziehen oder auch in den von ihnen erwarteten Leistungen „versagen“. Ihre diesbezügliche „Sprache“ ist sehr bunt.
Herausforderung: Die „ÜBERSETZUNG“ des Verhaltens
Die Schwierigkeit beim Heben dieses Schatzes liegt dabei in der richtigen „Übersetzung“ ihres Verhaltens. Diese Verantwortung liegt bei den Erwachsenen. Und sie kann NUR dort liegen. Denn Kinder entwickeln u.a. ihre Verhaltensmuster aufgrund der Vorbildwirkung der Erwachsenen. Doch nicht selten habe ich die Erfahrung gemacht, dass Erwachsene lieber die Batterien aus dem Alarm schlagenden „Feuermelder“ entfernen, als nachzuschauen, wo es wirklich brennt.
„DU TUST NIE ETWAS!“
Beginnen möchte ich heute mit einem Zitat von Jesper Juul, das für mich eine der Hauptursachen für die Entstehung von Konflikten in vielen Familien mit Jugendlichen auf den Punkt bringt: „Jeder Vorwurf, der in etwa lautet: „Du tust NIE etwas!“ bedeutet wirklich: „Ich habe mehr Verantwortung übernommen, als ich eigentlich tragen kann, und darüber möchte ich mit dir reden!“
Häufig übernehmen wir Erwachsenen Aufgaben, die eigentlich in der persönlichen Verantwortung der jugendlichen Kinder liegen sollten.
Ich kenne Mütter und Väter, die
- ihre jugendlichen Kinder (trotz gut ausgebauter öffentlicher Verkehrsmittel) überall hinfahren.
- sich allein verantwortlich dafür fühlen, dass sie täglich gesunde Jausenbrote in die Schultaschen packen und ausgewogene warme Mahlzeiten auf den Tisch zaubern.
- davon auszugehen scheinen, dass es ihre alleinige Aufgabe ist, dafür zu sorgen, dass frisch gewaschene und gebügelte Wäsche in den Kästen liegt und die sich für die Sauberkeit in den Zimmern der Jugendlichen zuständig fühlen.
- sich für die Lernerfolge ihrer fast erwachsenen Kinder zuständig fühlen und mit ihnen lernen, ihre Referate und Präsentationen vorbereiten.
- Termine für ihre Kinder vereinbaren und auch absagen.
- bei Problemen der Kinder mit „ungerechten“ Lehrer*innen in der Sprechstunde auftauchen und diese zu lösen versuchen.
- sich in Konflikte der Jugendlichen mit „gemeinen“ Mitschüler*innen einmischen.
- ihren 17jährigen Sohn täglich 20-mal aufwecken.
Die Liste der Verantwortungsübernahme durch die Eltern ließe sich noch lange fortführen. Dabei möchte ich betonen, dass KEINE der von mir aufgezählten Handlungen richtig oder falsch ist. Es liegt in der freien Entscheidung der Eltern, ob sie dies machen wollen oder eben nicht.
Ärger durch Überforderung
Doch das, was aus dieser Verantwortungsübernahme durch uns Erwachsene oft entsteht, ist Wut und Ärger auf unsere Kinder. Durch all die Dinge, die wir (warum auch immer) für unsere fast erwachsenen Kinder übernehmen, werden wir manchmal an unsere eigenen Grenzen gebracht und fühlen uns frustriert und überfordert. Und wenn wir dann unseren eigenen durch unser Verhalten ausgelösten Gefühlscocktail mit Vorwürfen, Beschimpfungen, Demütigungen, … über unsere Kinder schütten, dann schaden wir damit u.a. ihrem Selbstwert.
Kinder wollen für ihre Eltern wertvoll sein
Kinder und Jugendliche wollen sich VOR ALLEM für ihre Eltern wertvoll fühlen. Das ist eines der kindlichen Grundbedürfnisse. Und wenn sie dann mit Vorwürfen konfrontiert werden, dass sie dies und jenes nicht auf die Reihe kriegen, zu faul, zu blöd, zu … sind, dann sind sie leider oft nicht in der Lage zu sagen: „Aber DU räumst doch ständig mein Zimmer auf, weil es DIR zu schmutzig ist…. DU fährst mich doch ständig mit dem Auto zur Schule, weil du nicht willst, dass ich sonst zu viel Zeit verliere. Und DU weckst mich doch in der Früh auf, weil du nicht willst, dass ich zu spät komme. DU richtest mir das Pausenbrot, weil DU willst, dass ich gesund esse. … Ich will das eigentlich alles selbst lernen, bitte hilf mir dabei.“
Alle Kompetenzen, die Jugendliche in die Eigenverantwortung und Selbstständigkeit führen, müssen ebenso erlernt werden, wie das Gehen.
Und wenn ich als Mutter oder Vater mein Kind permanent fahre oder trage, dann darf ich mich nicht darüber wundern oder gar ärgern, wenn es nicht gelernt hat zu gehen. Es liegt in der Verantwortung der Erwachsenen, das Kind auf diesem Weg zu unterstützen, zu begleiten, zu ermutigen und zu trösten, wenn es auf die Nase gefallen ist, weil es eine Situation falsch eingeschätzt hat. Dieser Prozess ist nicht nur beim Gehen lernen nötig. Er gehört zum Erwachsen werden dazu.
Hören wir damit auf, Dinge zu tun, die wir nicht mehr tun wollen!
Also liebe Eltern, hören wir endlich auf, Dinge zu tun, die wir eigentlich nicht mehr tun wollen. Denn auch da sind wir Vorbilder für unsere Kinder.
Wir leben ihnen damit nämlich auch vor, dass es richtig ist, permanent über unsere Grenzen zu gehen und dann andere dafür verantwortlich zu machen. Wollen wir das wirklich?
Ich will das schon lange nicht mehr und daher lerne ich seit vielen Jahren täglich, meine Grenzen zu setzen und zu wahren. Auch meinen Kindern gegenüber. Und das verletzt sie NICHT. Das frustriert sie vielleicht, aber auch der Umgang mit Frust ist eine wichtige Kompetenz, die bereits in jungen Jahren gelernt werden sollte.
Ich freue mich sehr über eure Rückmeldungen und Fragen.
Herzliche Grüße
EureInes Berger
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