Wenn wir Erwachsenen von einer Krise gebeutelt sind, dann spüren unsere Kinder das

Ich kann mich noch exakt daran erinnern, wo ich war, als mich mein Sohn anrief und mir voller Entsetzen erzählte, dass es nun tatsächlich Krieg in der Ukraine gibt. In EUROPA.
Das war (wahrscheinlich nicht nur) für mich bis dahin undenkbar. Das hat mich zutiefst erschüttert. Ich habe fast eine Woche gebraucht, um diese Information zu verarbeiten, um mich wieder zu stärken und neu auszurichten. Das Gefühlechaos hat mich ganz ordentlich gefordert. Angst, Wut, Unverständnis, Ohnmacht waren nur einige der Gefühle, die auf mich einprasselten. Ich befand mich in einer Krise.

Das Gefühlechaos hat mich ordentlich gefordert

Dieter Ulich definiert in „Psychologie der Krisenbewältigung“ eine Krise wie folgt: „Krise ist ein belastender, temporärer, in seinem Verlauf und seinen Folgen ‚offener‘ Veränderungsprozess der Person, der gekennzeichnet ist durch Unterbrechung der Kontinuität des Erlebens und Handelns, durch eine partielle Desintegration im emotionalen Bereich mit dem zentralen Merkmal des Selbstzweifels.“

Sie werden sich nun vielleicht fragen, was das mit dem obigen Thema zu tun hat. Aus meiner Sicht fast alles. Denn wenn wir Erwachsenen von einer Krise „gebeutelt“ sind, dann spüren unsere Kinder das. Kinder haben nämlich „seismographische Antennen“, die Stimmungen und Gefühle ihrer Bezugspersonen wahrzunehmen. Sie spüren, dass da etwas „im Busch“ ist, dass sich ihre Eltern Sorgen machen, Angst haben. Sie bemerken die Veränderung der Erwachsenen, doch können sie diese nicht alleine zuordnen. Das kann bei Kindern Verunsicherung, Angst, Ohnmacht, Trauer, Schwere, Wut, … auslösen. Die Bandbreite an möglichen Gefühlen ist groß, sehr komplex und auch von Kind zu Kind unterschiedlich. Genauso wie bei den Erwachsenen.

Kinder spüren, dass sich ihre Eltern Sorgen machen

Daher möchte ich Sie eindringlich ermutigen, dass Sie mit Ihren Kindern sprechen, wenn es Ihnen nicht gut geht, wenn Sie sich Sorgen machen, wenn Sie Angst haben. Wie genau Sie das (abhängig vom Alter der Kinder) machen, dazu komme ich später noch. Denn wenn Erwachsene nicht aussprechen, dass sie etwas bewegt, beunruhigt, … oder noch schlimmer, ihre Gefühle vor den Kindern
verleugnen, weil sie glauben, für ihre Kinder stark sein zu müssen, dann ist die Gefahr groß, dass sie ihre Kinder dadurch in ihrer Entwicklung schwächen statt sie zu stärken.

3 Negative Auswirkungen, wenn die eigenen Gefühle vor den Kindern verleugnet werden

Diese „Schonhaltung“ der Eltern, die meist in bester Absicht geschieht, kann nämlich mindestens drei negative Auswirkungen auf die Kinder haben, auf die ich hier näher eingehen möchte:

1. Die Kinder sind verunsichert

Die Kinder sind verunsichert und beziehen die Stimmung des Erwachsenen fast immer auf sich selbst. „Vielleicht habe ich ja was falsch gemacht! Womöglich bin ICH schuld, dass es er Mama/dem Papa nicht gut geht!“ Und da sie, abhängig vom Alter des Kindes, oft noch keine Worte dafür haben, können sie manchmal auch noch nicht die richtigen Fragen stellen, um das, was sie spüren, in
den richtigen Kontext zu setzen und zu lernen damit umzugehen. Dafür brauchen sie authentische und klare Erwachsene.

2. Doppelbotschaften an das Kind stören das Selbstgefühl

Wenn Ihr Kind Sie fragt: „Was hast du? Bist du traurig?“ „Bist du wütend!“ … und Sie antworten: „Nein, nein! Alles gut! …“, dann schicken Sie Ihrem Kind eine Doppelbotschaft. Ihr Kind spürt,
dass es Ihnen nicht gut geht, doch aus Ihrem Mund hört es etwas anderes. Durch diese (wiederholten) Doppelbotschaften verlieren Kinder mit der Zeit ihr Selbstgefühl. Denn da sie den Bezugspersonen bedingungslos vertrauen, glauben sie deren Worten und nicht ihrem eigenen Gefühl. D.h. dass sie mit der Zeit verlernen, sich selbst und ihrem Gefühl zu vertrauen. Daher ist es unsere Aufgabe, die Kinder dabei zu unterstützen, ihr Selbstgefühl zu stärken, indem wir ihnen z.B. sagen: „Ja, du hast recht! Mir geht es gerade wirklich nicht so gut! Ich freue mich, dass du das spüren
kannst!“ So erfährt das Kind eine Bestätigung seiner Wahrnehmung und lernt, dass es sich auf sein Gefühl verlassen kann.

3. Die Monster im Kopf wecken

Wenn Kinder keine passenden Antworten auf ihr Gefühl oder ihre Fragen bekommen, dann können in ihren Köpfen „Monster“ entstehen, die meist wesentlich schlimmer sind als die Realität.
Wenn Sie je auf eine Diagnose eines Arztes (Labors, …) warten mussten, weil Sie eine Untersuchung hatten, dann wissen Sie wahrscheinlich genau, was ich meine. Konkrete Informationen, auch wenn sie vielleicht unangenehm oder schmerzhaft sind, geben uns auch ein Stück Sicherheit. Wenn wir wissen, was los ist, dann können wir (nach der Verarbeitung des ersten Schocks) wieder in unsere Kraft kommen. Das nennt sich Resilienz. Das ist die Kompetenz, die es uns Menschen möglich macht, gestärkt aus Krisen hervorzugehen.

Altersgerecht mit dem Kind reden

Wie Sie nun konkret mit Ihrem Kind über Krieg sprechen können, das hängt u.a. vom Alter des Kindes ab. Kinder bis ca. 5 Jahre spüren oft nur die Stimmungen der Erwachsenen, wenn diese sich Sorgen machen. Sie lesen ja keine Zeitungen und hören keine Nachrichten. Doch nicht selten schnappen sie Unterhaltungen der Erwachsenen auf. Dann stellen sie vielleicht Fragen, wie „Was ist Krieg? Was sind Panzer? Was ist Tod? …“ Diese Fragen sollten Sie unbedingt, in altersgemäßer Sprache, beantworten. Erklären Sie dabei NUR das, was gefragt wird. Zeigen Sie keine Bilder, keine Filme. Ihr Kind lässt aus Ihren Worten die Bilder in seinem Kopf entstehen, die es auch gut verarbeiten kann.

Schulkinder hingegen kommen oft schon direkter mit dem Tagesgeschehen in Berührung. Auch hier gilt es, klar, authentisch, altersangemessen und sachlich die Fragen zu beantworten. Finden Sie aber auch heraus, welche Themen Ihr Kind gerade beschäftigen. „Was hast du gehört, gelesen, gesehen? Hast du Fragen? Was denkst du? Was löst es in dir aus?“ Agieren Sie aber auch hier nicht proaktiv, sondern schauen Sie, wo Ihr Kind gerade steht. Sprechen Sie auch Ihre eigene Betroffenheit aus. Teilen Sie Ihre Sorgen, ohne Katastrophen-Szenarien heraufzubeschwören, UND vermitteln Sie gleichzeitig auch, dass viel dafür getan wird, damit Hilfe und Sicherheit geschaffen wird, ohne die Gefühle Ihres Kindes oder Ihre eigenen zu ignorieren. Und bitte reden Sie Ihrem Kind nicht seine Gefühle aus. Erstens wird es Ihnen ohnehin nicht gelingen und zweitens geben Sie Ihrem Kind dann das Gefühl, dass mit ihm etwas nicht stimmt. Zeigen Sie Interesse, Neugierde und Offenheit für seine Gefühle mit einer Haltung von „Aha, so ist das für dich!“. Dann fühlt sich Ihr Kind gesehen und ernst genommen und kann lernen, mit diesen Gefühlen umzugehen.

Mit Jugendlichen stellt sich die Situation anders dar. Mit ihnen kann meist schon gut diskutiert werden. Informieren Sie sich, woher Ihr Teenager seine Infos bezieht. Sprechen Sie über
Fake-News! Machen Sie gemeinsam einen Faktencheck! Besprechen Sie, woran Falschinfos zu erkennen sind! Bleiben Sie in Kontakt, fragen Sie nach, worüber sich Ihr Teenie vielleicht Sorgen
macht, was ihn beschäftigt und sprechen Sie offen über Ihre Gefühle ohne Panik zu machen.

Ehrlich sein und Sicherheit vermitteln ist das wichtigste

Für alle Altersgruppen gilt, Sicherheit zu vermitteln, ohne Dinge zu versprechen, die man nicht versprechen kann. Z.B. fragte mich vor kurzem ein Jugendlicher im Coaching: „Glaubst du, dass ein 3. Weltkrieg ausbrechen wird?“ Meine ehrliche Antwort: „Ich weiß es nicht. Doch ich hoffe nicht! Denn momentan versuchen viele Menschen, genau das zu verhindern und zwischen den Fronten zu vermitteln. Ich habe mich dazu entschieden, zu vertrauen, dass das funktionieren wird. Aber wissen kann ich es leider nicht! Das kann derzeit niemand!“

Damit Sie als Familie gut durch diese Krise kommen, ist es aber auch wichtig, dass Sie Routinen und eine Alltagsstruktur einführen bzw. aufrechterhalten, die Sicherheit gibt und ein Gefühl von Handlungsfähigkeit. Vielleicht beteiligen Sie sich an Hilfsprojekten oder unterstützen gemeinsam mit Ihrem Kind Flüchtlinge. Dann kann sich ein Gefühl von Selbstwirksamkeit einstellen, das uns hilft, Krisen zu bewältigen. Und bitte planen Sie Dinge ein, die Ihnen allen gut tun und Freude bereiten. Erstellen Sie eine „Uns zur Freude-Liste“, in der jedes Familienmitglied aufschreiben darf, was es gerne Schönes erleben möchte. Denn es darf Ihnen und Ihrer Familie trotzdem gut gehen, auch wenn es anderen gerade schlecht geht. Es ist nämlich niemandem geholfen, wenn Sie leiden, obwohl es Sie nicht direkt im Alltag betrifft!

Zum Abschluss möchte ich Ihnen noch Jesper Juuls berühmte „Take five“ für das Gespräch mit Ihrem Kind mitgeben: Sollten Sie sich einmal durch die Fragen Ihres Kindes überfordert fühlen, dann bitte nehmen Sie sich fünf Minuten oder gerne auch länger Zeit, um darüber nachzudenken. Sagen Sie Ihrem Kind so etwas Ähnliches wie: „Uihhh, da habe ich jetzt noch keine Antwort darauf. Das weiß ich gerade auch nicht. Da muss ich erst darüber nachdenken. Gib mir bitte ein bisschen Zeit. Ich sage es dir, wenn ich eine Antwort gefunden habe.“ Eltern müssen nämlich nicht immer sofort eine Antwort haben. Wir dürfen auch über Fragen nachdenken und uns die Zeit nehmen, später darauf zu antworten. So sind wir auch hier unseren Kindern Vorbilder, an denen sie sich orientieren können.

Dieser Artikel ist auch erschienen auf www.luettbecker.de.

Herzlichst,

Deine Ines


Kennst du schon „Meine 3 besten Tipps zum Thema Medienkonsum und Jugendliche“? Jetzt kostenlos als Video-Mini-Kurs herunterladen! >> Hier mehr erfahren <<


ANMELDUNG ZUM NEWSLETTER

0 Kommentare

Hinterlasse einen Kommentar

An der Diskussion beteiligen?
Hinterlasse uns deinen Kommentar!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.