Wie Kinder Selbstständigkeit und Eigenverantwortlichkeit lernen

Email einer Mutter an die Lehrerin ihres Sohnes (15 Jahre):

Sehr geehrte Frau H.,

mein Sohn Felix hat leider die Themen für die kommende Mathe-Klassenarbeit in der Schule vergessen. Da wir in Mathe aber regelmäßig üben müssen, damit wir die Klassenarbeit gut schaffen, ersuche ich Sie, mir den Stoff per Email zu schicken, damit wir bereits am Wochenende mit der Vorbereitung beginnen können.

Vielen Dank für Ihre Bemühungen.
Ich verbleibe mit freundlichen Grüßen
Sylvia K.

Von täglichen Erfahrungen lernen

Für mich ist dieses Email stellvertretend dafür, was ich in meinem beruflichen und privaten Alltag als Mutter, ehemalige Lehrerin, Eltern- und Erziehungsberaterin fast tagtäglich erlebe.

Dieses Virus, das Eltern – meist widerwillig – dazu bringt, nochmals gemeinsam mit ihren Kindern die Schulbank zu drücken, breitet sich seit Jahren rasend aus – und ein Ende ist für mich kaum absehbar. Eltern fühlen sich vermehrt dafür verantwortlich, dass sie die schulische Lern- und Organisationsarbeit für ihre Kinder übernehmen. Und ich meine damit nicht nur Eltern, die sich mit ihrem Kind am Anfang der Schulkarriere befinden, wo Kinder anfänglich noch elterliche Unterstützung brauchen – nein, dieses Phänomen zieht sich bis weit in die Sekundarstufe 2 (in Österreich Oberstufe genannt) hinein.

Ich spreche dabei von Eltern, die in bester Absicht ihr Kind unterstützen wollen, die wollen, dass ihr Kind die besten Zukunftschancen bekommt, die wollen, dass ihr Kind auf der Grundlage einer guten Ausbildung ein zufriedenes und selbstbestimmtes Leben führen kann.

Und dabei schießen sie oft völlig über das Ziel hinaus, so wie die Autorin dieses Artikels, die eine Autofahrt von 50 km inklusive Stau auf sich genommen hat, um ihrer 13-jährigen Tochter das vergessene Geografie-Heft nachzubringen, oder der Vater, dessen Wochenendbeschäftigung darin besteht, mit seinem Sprössling meist widerwillig (von beiden Seiten) zu lernen, damit dieser bessere Noten schreibt, oder die Familie, deren zentrales Familienthema über einen Zeitraum von fast einem Jahr der eventuell bevorstehende Schulwechsel ihrer Tochter ist.

Das Thema Schule hat seit Jahren das Leben vieler Familien fest im Griff

Ich bin fast täglich mit Eltern, Kindern und Jugendlichen konfrontiert, die davon erzählen, dass es im Familienleben kaum mehr Gespräche gibt, die sich nicht um dieses Thema (neben Medienkonsum) drehen:

seien es die Hausaufgaben, die zu erledigen sind,
sei es, dass auf Klassenarbeiten, Tests, Prüfungen gelernt werden muss,
sei es, dass schulische Leistungen ihres Sprösslings für die Eltern nicht zufriedenstellend ausgefallen sind,
sei es, dass der positive Jahresabschluss gefährdet ist, ….

Diese Liste ließe sich noch beliebig weiter führen.

System Schule und PISA

Der Druck zieht sich seit langem – spätestens aber seit PISA – durch das System Schule:

  • Eltern, die den Wunsch verspüren, ihren Kindern die bestmögliche Ausbildung zu ermöglichen.
  • Lehrer*innen, die ihre Schülerinnen kompetenzorientiert, leistungsdifferenziert auf Bildungsstandards und die Zentralmatura vorbereiten müssen und dabei die Schüler und Schülerinnen auf keinen Fall demotivieren dürfen.
  • Direktor*innen, die um die Zahl ihrer Schüler*innen fürchten und dafür sorgen müssen, dass möglichst viele Schüler*innen positiv abschließen können.
  • Und letztendlich die Politik, die aus Angst vor PISA-Ergebnissen Druck auf Direktor*innen und Lehrer*innen macht, und die permanent Anlassreformen erlässt, bevor vorherige Reformen überhaupt die Möglichkeit hatten zu greifen, und die aus Angst vor den nächsten Wahlergebnissen sich scheut, wirkliche Reformen anzugehen, die den Erkenntnissen aus Gehirnforschung, Bildungswissenschaften,… entsprechen würden.

Und ich behaupte, dass KEINER dabei wirklich an die denkt, die die Schulreformen der Politik ausbaden, die Erwartungen der Eltern erfüllen müssen, an die, die uns Erwachsenen eigentlich am meisten am Herzen liegen müssten, die, um die es geht: nämlich unsere Kinder, die im schlimmsten Fall an diesem System zerbrechen und im besten Fall durchschnittliche und angepasste Pflichterfüller werden, die aber im späteren Leben angeblich gar nicht gern gesehen sind.

Kinder sind das wertvollste, das uns anvertraut wurde

Kinder sind ein uns geliehenes großes Geschenk, das wir mit viel Liebe, Respekt und großer Neugierde auspacken dürfen, um gemeinsam mit ihnen herauszufinden, wer SIE sind, wo IHRE Stärken liegen, welche Bedürfnisse SIE haben, woran SIE wachsen können. Kinder werden uns anvertraut, damit wir sie auf ihrem Weg zu Erwachsen werden begleiten; und sie sind KEINESFALLS auf dieser Welt, damit WIR uns verwirklichen, damit sie den Weg gehen, den WIR so gerne gegangen wären oder den, den WIR für richtig halten.

Das Traurige dabei ist, dass die meisten Handlungen von Eltern aus der Intention entstehen, dass sie das Beste für ihr Kind wollen, dass sie es aus ganzem Herzen lieben, dass sie es beschützen wollen, dass sie ihnen Fehler und Schmerz ersparen wollen, dass sie wollen, dass es den Kindern vielleicht einmal besser geht, als ihnen selbst.

Ich behaupte – wie der dänische Familientherapeut Jesper Juul: „Jeder tut sein Bestes!“ oder zumindest tut er es mit bester Absicht. Und darin liegt das Problem an sich. Wir tun für niemanden das Beste, wenn dieser es nicht spüren kann. Die Herausforderung für Eltern liegt darin, dass wir unsere liebevollen Gefühle für unsere Kinder, in liebevolle Handlungen umsetzen müssen, d.h. in Handlungen, die unsere Kinder auch als liebevoll empfinden (Jesper Juul). Erst dann spüren sie, dass sie wertvoll und wichtig für uns sind, erst dann haben sie die Chance, Selbstliebe und Selbstgefühl zu entwickeln, sich selbst kennenzulernen.

Und was heißt das in Bezug auf den obigen Titel?

Meine weiteren Gedanken, Ideen und Erfahrungen dazu findest du in drei weiteren Blog-Artikeln mit dem Thema „Freudvoll und gelassen durch das Schuljahr“, da es mein Herzenswunsch ist, dass das Thema Schule im Familienalltag nur mehr ein Randthema ist, damit für Eltern und Kinder endlich wieder mehr Zeit für die wirklich wichtigen Dinge im Leben (abseits von Schulnoten) bleibt.

6 Kommentare
  1. Caroline
    Caroline sagte:

    DANKE, liebe Ines, für diesen wichtigen Beitrag… ich fühle mich ertappt. Seit Jahren bin ich zerrissen zwischen „meinen Sohn auf dem Weg begleiten, den er selbst (!) gewählt hat“ und „zusehen müssen, wie er eigentlich dabei immer bedrückter, lust- und freudloser wird“.
    Ich habe mir vor einigen Wochen vorgenommen, loszulassen… damit die Verantwortung für das Mass des Einsatzes ganz auf mein pubertierendes Kind zurückgeht – wo sie auch hingehört. Es fällt mir natürlich unglaublich schwer, mich nicht mehr einzumischen, aber es ist vermutlich das einzig Richtige. Da zu sein, wenn er mich braucht – aber nicht mehr proaktiv pushen. Das hat unsere Beziehung bereits sehr entlastet!
    DANKE, Ines, für deine wertvolle Arbeit.

    Antworten
    • inesbergerat
      inesbergerat sagte:

      DANKE, liebe Caroline für deine Wertschätzung. UND ich freue mich mit dir, dass du bereits neue Wege erfolgreich ausprobierst. Was für ein Geschenk an deinen Sohn. Alles Liebe.

      Antworten
  2. Nadine
    Nadine sagte:

    Danke liebe Ines für diesen Artikel. Ich bin ganz deiner Meinung.
    Leider sehen das viele Lehrer aber nicht so. Da wird im Elterngesprach verlangt, dass wir die Hausaufgaben kontrollieren und mit den Kindern (7.Klasse)für Arbeiten lernen sollen.
    Manche Lehrer sind nicht mal bereit, ein Gespräch GEMEINSAM mit dem Kind zu führen.
    Gerade habe ich, auf die Bitte um einen Termin mit der Lehrerin und meines Kindes, zur Antwort bekommen dass die Lehrerin nur mit mir sprechen möchte und ich ja dann alles so weitergeben kann. Ich bin mittlerweile wirklich Ende meiner Ideen und leider kommt ein Schulwechsel nicht in Frage da bei uns alle Schulen überfüllt sind 😔

    Antworten
    • inesbergerat
      inesbergerat sagte:

      Liebe Nadine, DANKE für dein Feedback. Es tut mir sehr leid für dich/euch, dass es da von Seiten der Lehrer*innen so wenig Kooperationsbereitschaft gibt. Ich finde es furchtbar, wenn die Kinder nicht dabei sein dürfen, wenn über sie gesprochen wird.

      Zum Thema Hausübungen kann ich dich nur ermutigen, deine Grenzen zu setzen und ganz klar zu kommunizieren, dass das in eurer Familie anders ist, weil ihr wollt, dass euer Kind selbstständig und eigenverantwortlich wird. Und das ist ein Lernprozess, auf dem ihr euer Kind unterstützt, aber nicht in dieser verlangten Form. Ich weiß, das braucht manchmal Mut und oft auch ein Hinterfragen der eigenen Glaubenssätze. Aber aus meiner Sicht zahlt es sich voll aus.
      Wenn du dir auf diesem Weg Unterstützung wünschst, dann freue ich mich, wenn ich dich dabei ein Stück begleiten darf.
      Herzliche Grüße. Ines

      Antworten

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